Islam und Koran

Kann der IS-Terror sich tatsächlich auf den Islam berufen?

Ist der Islam böse? So betitelte erst kürzlich das Magazin Cicero die August-Ausgabe 2014. Der wesentliche Hintergrund für diesen Titel waren unter anderem die Gräueltaten der Terror-Organisation ISIS (Islamischer Staat). ISIS erhebt offensichtlich den Anspruch, seine Massaker an den Minderheiten wie z.B. Jesiden und Christen direkt aus dem Koran abzuleiten. Aus diesem Anlass fordert nun der Kolumnist Frank A. Meyer, dass man zwischen dem sogenannten Islamismus und dem Islam als solchen keinen Unterschied mehr machen darf. Schon seit Anbeginn seiner Entstehung sei das Gewaltpotenzial maßgeblich im strukturellen Kern dieser Religion angelegt. Nach Meyer sind die Begriffe „Islam als Weltreligion“ und „Politischer Islamismus“ Synonyme. Deshalb wäre es ein naiver Trugschluss, diese zu differenzieren (siehe Beitrag in: Cicero, Nr. 8, S. 22-23, Berlin, 2014).

Unzählige Islamkritiker gehen in ihren Analysen sogar so weit, dass die wesentliche Grundlage für die gewalttätigen Vorgehensweisen der Terrormiliz „ISIS “ ausschließlich im heiligen Buch der Muslime zu suchen sei. In seinem Leitartikel „Kopfsteuer für Christen“, lässt Hamed Abdel-Samad keinen Zweifel daran, dass die Verfolgung von Christen im Irak auf den Koran und den Propheten Mohammed zurückzuführen ist: „Die Verfolgung der Christen durch ISIS hat leider viel mit dem Islam selbst zu tun. Die Texte des Korans, die Hadithe des Propheten und die Geschichte der islamischen Eroberungen liefern ISIS Argumente“ (Die Zeit, S. 46, Hamburg, 31. Juli 2014).

Angesichts der gegenwärtig prekären Situation in Syrien und dem Irak – und vor allem den eingangs erwähnten Schilderungen – wird zunehmend mit Sorge beobachtet, dass die vermeintliche Gefahr nicht mehr in ideologisch anderweitigen Auswüchsen zu suchen sei, sondern in der Religion des Islam selbst. Aus diesem Beweggrund dürfe deshalb kein geringerer als der Islam selbst auf die Anklagebank gesetzt werden. Laut Bestseller-Autor und Evolutionsbiologen Prof. Richard Dawkins solle sich im Großen und Ganzen niemand darüber wundern, wenn von Religionen gewalttätige Impulse ausgingen. Besonders die Affinitäten der drei monotheistischen Religionen seien in ihren Grundzügen menschenfeindlich konzipiert. Dies soll unter anderem mit der Entstehung der Textgeschichte der Heiligen Schriften einhergehen: „Das große unsagbare Übel im Mittelpunkt unserer Kultur ist der Monotheismus. Aus einem barbarischen bronzezeitlichen Text, der unter dem Namen Altes Testament bekannt ist, haben sich drei menschenfeindliche Religionen entwickelt: das Judentum, das Christentum und der Islam“ (Richard Dawkins, Der Gotteswahn, 9. Auflage, S.53, Berlin, 2007).

Der ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Prof. Wolfgang Huber, schlägt zu den oben angeführten Anschuldigungen einen anderen und bisweilen nüchternen Ton an. In einem Zeitungsinterview meinte Huber, dass der Islamische Staat (ISIS) die Religion offensichtlich für seine terroristischen Zwecke missbrauche. Auch beunruhigt ihn die im gleichen Atemzug erwähnte Verbindung von Terror und Religion: „Die Verbindung von Terror und Religion ist eine der beunruhigendsten Erscheinungen unserer Zeit. Der islamische Staat missbraucht den Gottesnamen, wenn er Menschen tötet oder versklavt“ (Die Zeit, S. 54, Hamburg, 28. August 2014).

Ist Gewalt im Islam tatsächlich legitimiert?
Bereits im Jahre 2004 prangerte der türkische Theologe Prof. Dr. Yasar Nuri Öztürk die weitverbreitete und später überlieferte islamische Sekundärliteratur zum Koran öffentlich an. Besonders im Bereich der Fiqh-Literatur (Rechtswissenschaft) wäre es nicht verwunderlich, dass sich aus diesen Schriftwerken gewalttätige Exzesse ableiten ließen. Seine Kritik wendet sich hauptsächlich an die historisch gewachsenen arabischsprachigen Fiqh-Quellen, da sie den eigentlichen Ursprung für die Gewalttätigkeit in anderen Werken bilden würden. Basierend auf diesen historisch tradierten Fiqh-Quellen, würde sich ausnahmslos nur radikales Gedankengut übertragen lassen, wie z. B. der politische Extremismus. Auch andere zahlreiche gegenwärtige Bewegungen würden aus diesen Quellen unermüdlich schöpfen. Ebendiese traditionellen Fiqh- Quellen mitsamt ihren Verästelungen würden nichts anderes als Gewalt entstehen lassen, weshalb sie unbedingt einer strengen Revision untergezogen werden müssten: „Der traditionelle arabische Fiqh produziert nichts anderes als ein Fiqh der Gewalttätigkeit. Eben aus dieser Fiqh-Lehre sind die Taliban, die al-Qaida und besonders der gewaltverherrlichende politische Islamismus hervorgegangen“ (Prof. Dr. Yasar Nuri Öztürk, Türkiye´ye Mektuplar, S. 106, 2. Auflage).

Abgesehen von den schriftlichen Fiqh-Quellen seien auch die Hadithe keineswegs vor gewalttätigen Exzessen bewahrt. Selbst in der praktischen Umsetzung der zweiten Säule des Islam, nämlich dem obligatorischen Gebet, werde diese den Kindern mittels Gewaltanwendung vermittelt. In der Hadith-Sammlung von Abu Dawud (gest. 889) wird überliefert, dass Kinder, die nicht willig sind, das rituelle Gebet zu verrichten, mittels autoritären Methoden, wie beispielsweise durch Schläge zu erziehen seien. „Der Gesandte Gottes sagte: ‚Lehrt euren Kindern zu beten, wenn sie sieben Jahre alt sind. Schlagt sie, wenn sie nicht beten, wenn sie zehn Jahre alt sind, und trennt sie in ihren Betten‘ “ (Abu Dawud, Kitab as- sunan, Bd. 1, S. 429-430, Hadith Nr. 494- 495).

Die oben zitierte Überlieferung hat zuweilen auch Eingang in die verschiedensten islamischen Katechismen gefunden, wie z.B. der in Deutschland von der „Islamischen Bibliothek“ publizierte und bundesweit in hohen Auflagen verbreitete Katechismus „Das Gebet im Islam“. In Anlehnung zum Hadith von Abu Dawud wird Folgendes erklärt: „Kinder sollen vom siebten Lebensjahr an von den Eltern durch Ermahnungen zum Gebet angehalten werden, vom zehnten Lebensjahr an auch notfalls, wenn es gar nicht anders geht, durch Schläge“ (Mohammed Ibn Ahmad Ibn Rassoul, As- Salah, Das Gebet im Islam, 7. verbesserte Auflage, S. 21, Düsseldorf, 1999).

Dr. Murad Wilfried Hofmann wies bereits in seinem aufsehenerregenden Buch „Der Islam im 3. Jahrtausend“ auf die grundlegende Herausforderung und die Problematik für die Muslime im 21. Jahrhundert hin. Die angeführten sechs Punkte sind jedoch bis heute weitestgehend ungeklärt:

Sind Koran und Sunna beides Offenbarungen (wahy), oder ist die Sunna nur inspirierte (ilham) Rechtsleitung?

Kann die Sunna den Koran abändern (derogieren)? Kann der Koran die Sunna abändern?

Sind Sunna und Hadith identisch, oder gibt es neben den schriftlich festgehaltenen Traditionen (Hadith) noch eine lebendige, ohne Schriftform weitergegebene Sunna der frühen islamischen Gemeinde?

Kann ein Hadith verworfen werden, obwohl seine Überliefererkette in Ordnung zu sein scheint?

Wenn ein Hadith aus Gründen seines Inhalts (matn) verworfen werden soll, welches sind die dafür zulässigen Kriterien (Vernunft; Freiheit von Widersprüchen; historische oder kontextuelle Gründe)?

Ist die gesamte Sunna moralisch bindend? Sind Traditionen rechtlicher Natur notwendig zeitlos und weltweit bindend?

Abschließend merkt Hofmann lakonisch an: „Beim Durchdenken dieser Fragen könnte einem schwindlig werden – auch dann, wenn man nicht wüsste, dass die Zukunft des Islam im 3. Jahrtausend davon wesentlich betroffen ist“ (Der Islam im 3. Jahrtausend, S. 215-216, München, 2000).

Die muslimischen Gelehrten stehen im Angesicht dieser prekären Situation vor der Bewältigung einer außerordentlichen Aufgabe. Denn hier wird zu Recht gefragt, wie man mit diesen Überlieferungen im Antlitz der Gegenwart hantieren soll? Die traditionellen Hadith- Gelehrten stuften die Überlieferung mit dem Schlagen ohne Zweifel als authentisch ein. Waren vielleicht die erzieherischen Methoden vor ca. 1500 Jahren auf der arabischen Halbinsel eine unserer religiösen Erziehung diametral entgegengesetzte Form und das Schlagen eine übliche Praxis gewesen? Die eigentlich entscheidende Frage wäre hierzu, ob diese Überlieferungen tatsächlich auch mit den Wertvorstellungen und dem Geist des Koran zu vereinbaren wären. Sollen die Eltern nicht eher den Koranvers 2:256 „Kein Zwang in der Religion“ zur Grundlage nehmen als die Hadithe und die Kinder weder zur Religion zwingen noch sie schlagen, da ein Zwang von vorneherein zum Scheitern verurteilt ist? Deshalb sind die qualifiziertesten muslimischen Gelehrten daran angehalten, ein Methodenapparat zur Untersuchung der historischen Texte zu entwickeln. Einzelne islamische Fakultäten, wie die mittlerweile auch im Westen bekannte Ankaraner Schule – aber auch inzwischen etliche muslimische Persönlichkeiten – befassen sich seit Kurzem mit verschiedenen neu auftretenden Problemfeldern des 21. Jahrhunderts (siehe hierzu besonders die drei Beiträge von: Felix Körner, Alter Text – neuer Kontext: Koranhermeneutik in der Türkei heute, 2006, Freiburg; Rachid Benzine, Islam und Moderne, Die neuen Denker, 2012, Berlin; Katajun Amirpur den Islam neu denken: Der Dschihad für Demokratie, Freiheit und Frauenrechte, München, 2013).

Der Koran und das Verhältnis zur Gewalt
Nicht nur in den Printmedien, sondern besonders in Digitalmedien werden sämtliche im Umlauf befindlichen Koranverse verstärkt in Verbindung mit Gewalt zitiert. Es scheint so, als würden die Printmedien zu vermitteln versuchen, dass der Koran Gewalttätigkeit impliziert. Außerdem sollen sie die Muslime – laut diesen Medien-  noch dazu animieren, alle Nichtmuslime in ihrem Umfeld in Zeiten der territorialen Macht bis zum Tode zu bekriegen. Bei näherer Betrachtung der zu Gewalt aufrufenden Koranverse, lässt sich unschwer feststellen, dass es sich hierbei ausnahmslos um die gleichen nur handvollen Koranzitate handelt, wie z. B.

• „Wenn ihr auf die stoßt, die ungläubig sind, so haut ihnen auf den Nacken“ (47:4).

• „O Prophet, kämpfe gegen die Ungläubigen und die Heuchler und sei hart gegen sie!“ (9:73).

• „Und wenn nun die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Heiden, wo immer ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie und lauert ihnen überall auf“ (9:5).

Der britische Islamwissenschaftler Prof. Michael Cook kommentiert den letzten zitierten Vers 9:5 (der auch unter dem Namen „Schwertvers“ bekannt ist) dahingehend, dass der Koran explizit dazu aufruft, alle Polytheisten zu töten, wenn sie nicht zum Islam zwangskonvertieren würden: „ Mit anderen Worten, man soll die Polytheisten töten, wenn sie sich nicht zum Islam bekennen“ (Prof. Michael Cook der Koran, eine kurze Einführung, S. 45, Ditzingen, 2002).

Allerdings kann auch unschwer nachgewiesen werden, dass diese zuweilen unumstößliche Interpretation von Cook schon seit jeher als weitverbreitete Sichtweise unter muslimischen Autoren zirkuliert. Zu denken wäre hierbei an das Werk des syrischen Autors Abd al-Malik al- Barrak „Rudud ala abatil wa shubahat haula l-jihad“ (Erwiderungen auf Lügen und Rechtsirrtümer über den jihad). Bezugnehmend auf den sogenannten Schwertvers 9:5, drückt al- Barrak seine Erläuterung in mehreren Punkten aus. In seiner Einführung macht er eindringlich nochmals darauf aufmerksam, dass man nicht unbedingt arabisch verstehen müsse, um die Intention des Wortlautes in 9:5 falsch zu deuten: „Derjenige, der den Wortlaut dieses Verses genau liest, wird unweigerlich folgenden Sinn erkennen, selbst wenn er kein Meister der arabischen Sprache ist:

die Pflicht, die Polytheisten zu töten, wo auch immer man sie findet, nachdem die heiligen Monate abgelaufen sind;

die Pflicht, die Polytheisten zu ergreifen, zu umzingeln und ihnen überall aufzulauern, um sie zu bekämpfen und zu töten (Mariella Ourghi, muslimische Positionen zur Berechtigung von Gewalt, S. 85, Würzburg, 2010; Al-Barrak, Rudud, S. 61).

Daraus schlussfolgernd kommt al- Barrak zu einer Sichtweise, wonach der Koranvers nicht in seinem gebräuchlichen Kontext seiner Offenbarungszeit (asbab an- nuzul) zu verstehen wäre, sondern der Kampf gegen die Polytheisten für alle Zeiten und Epochen ihre Gültigkeit bewahren wird: „Der Vers spreche eben nicht von einem bestimmten Kampf zwischen Muslimen und Heiden, sondern treffe eine allgemein gültige Aussage“ (Mariella Ourghi, Muslimische Positionen zur Berechtigung von Gewalt, S. 85, Würzburg, 2010; Al-Barrak, Rudud, S. 61).

Auch die Terror-Bewegung „ISIS“ verbreitet über sämtliche ihr zur Verfügung stehenden Kanälen (z. B. soziale Medien) die ahistorische Bedeutung jenes Koranverses (9:5). Deshalb seien alle Muslime weltweit einträchtig dazu aufgerufen, den Willen Gottes durch die Bekämpfung der Ungläubigen nachzukommen. Interessanterweise scheint es einen Konsens in der Herangehensweise bei der Textauslegung von extremistischen Bewegungen bezüglich ihrer angewandten Methodologie zu geben. So ist beispielsweise eines ihrer zentralsten Motive die eigenwillige Selektion des Korantextes (vgl. den Beitrag von Navid Kermani, Wer ist Wir?, S. 99-111, Köln, 2009). Der inzwischen verstorbene Koranwissenschaftler Nasr Hamid Abu Zaid (1943-2010) fasste eines dieser Motive prägnant zusammen: „Diese und ähnliche Texte (gemeint sind die Kriegs-Passagen) aus dem Heiligen Buch der Muslime zitieren die Terroristen, um ihre Handlungen zu rechtfertigen, nicht nur bei der Bekämpfung der Götzenanbeter und der Leute des Buches (Juden u. Christen), sondern auch der Muslime selbst in den islamischen Gesellschaften, da ihrer Meinung nach diese Gesellschaften nicht mehr den Regeln des Islams und seinem Gesetz folgen“ (Jochen Hippler, Nasr Hamid Abu Zaid, Amr Hamzawy, Krieg, Repression und Terrorismus, S. 152, Stuttgart, 2006). Abu Zaid machte zweifelsohne auf eine vernachlässigte Thematik aufmerksam, die bedauerlicherweise sehr selten in westlichen Medien veröffentlicht wird, nämlich darauf, dass insbesondere die Muslime in erster Linie Zielscheibe und Opfer des gewalttätigen Extremismus sind. Prof. Gilles Kepel merkt zum aktuellen IS-Terror folgendes an: „Momentan sind Muslime die Hauptopfer der islamistischen Terrorbewegungen“ (Cicero, Nr. 8, S. 21, Berlin, 2014).
In der Tat kann man sowohl den Koran als auch andere heilige Texte in selektiver Auswahl zu gewalttätigen Aktivitäten aufrufend auslegen. In der Frühgeschichte des Islam zeichnete sich eine radikale Gruppe namens Charidschiten aus, die aus einem Bürgerkrieg zwischen dem Kalifen Ali (gest. 661) und dem Statthalter von Damaskus Muawiya (gest. 680) auf die Bühne traten. Ein wesentliches Ziel der Charidschiten war es, den vierten Kalifen des Islam Ali b. Abi Talib mit allen erdenklichen Mitteln zu bekämpfen. Schließlich fiel ihnen der Kalif während eines Morgengebetes zum Opfer. Auffallend ist allerdings, dass die Charidschiten gewisse ideologische Parallelen zu den Salafistischen Bewegungen und dem aus ihr zwangsläufig hervorgegangenen ISIS (Islamischer Staat) aufweist. Sie duldeten bekanntlich keine anderen religiösen Interpretationen als die ihre und machten es sich zur Pflicht, die andersdenkenden Gläubigen im Namen der Religion zu massakrieren. Ein besonderes Merkmal war unter anderem ihre radikale Ausrichtung in den Gottesdiensten. So verrichteten sie ihre Gebete in der Niederwerfung sehr lange, bis schließlich Wunden an ihren Stirnen entstanden, ja sogar ihre Handinnenfläche so hart wie die Knie von Kamelen wurden (Hornhaut). (Siehe hierzu: Abul Feth, es-Sehristani (1076-1153), el-Milel ve´n-Nihal, Auflage Kairo 1968; vgl. auch: Prof. Dr. Seraffedin Gölcük, Kelam Tarihi, S. 22-26). Imam Ali vermochte vor seinem Ableben noch ibn Abbas (gest. 688) nach Nahrawan zu schicken, um so einen bevorstehenden Krieg mit diplomatischen Mitteln zu verhindern. Da Ali die Strategie der Charidschiten und ihre Vorgehensweise ziemlich gut studiert hatte, gab er ibn Abbas die rigorose Anweisung mit, keineswegs mit ihnen über die Schuldzuweisungen mit dem Koran zu argumentieren, da sie im Gegenzug andere selektive Koranverse für die Untermauerung ihrer Ideologie hervorzubringen vermochten. Ali riet deshalb zu ibn Abbas: „Streite mit ihnen nicht mit dem Koran, denn wahrhaftig, der Koran hat vielfältige Gesichter (Bedeutungen). Sprich du, und sie sollen sprechen, aber protestiere gegen sie mit der Verfahrensweise [sunna] (des Propheten), denn davor können sie nicht fliehen“ (Nehcu l Belaga, S. 333, Beyan Yayinlari 2006; vgl. Abul Feth, es-Sehristani (1076-1153), el-Milel ve´n-Nihal, Auflage Kairo 1968, vgl. auch: Prof. Dr. Seraffedin Gölcük, Kelam Tarihi, S. 22-26).

Wie muss nun 9:5 in seinem Kontext richtig verstanden werden?
Der Koran teilt seiner Leserschaft mit, dass in erster Linie seine unmittelbare Auslegung (Tafsir) Gott allein vorbehalten ist: „Und wahrlich, Wir hatten ihnen ein Buch gebracht, das Wir mit Wissen darlegten als Richtschnur und Barmherzigkeit für die Leute, die gläubig sind“ (7:52). Der Autor des Werkes „Die Methodologie um den Koran zu verstehen“ (türk. Kuran´i Anlama Usulü), Dr. Fatih Orum, gibt zu verstehen, dass die Offenbarung in 11:1 im Korantext selbst ausführlich kommentiert wird: “(Dies ist) ein Buch, dessen Verse vervollkommnet und dann im Einzelnen erklärt worden sindvon einem Allweisen, Allkundigen“ (vgl. Kuran´i Anlama Usulü, S. 295-319. Ausgabe 2013).

Aus diesem Grund wäre es besonders geboten, die Koranverse nicht isoliert, sondern in ihren Zusammenhängen zu deuten, um so die beabsichtigte Erkenntnis über ihre Intention erlangen zu können. Sowohl die Terrormiliz „ISIS“ als auch die „Islamkritiker“ zerren dessen ungeachtet vereinzelte Koranverse aus dem Zusammenhang, um so im Vorfeld ihr gewünschtes Ergebnis in die Schrift des Koran zu projizieren. Die Sure at-Tawba (Sure 9) ist ohne Zweifel die am meistdiskutierte Sure, wenn es doch primär um die mögliche Aggression und die daraus resultierende Legitimation von Gewalt gehen soll. Für einen beachtlichen Teil der Gefährten des Propheten war die Sure 9 eine unmittelbare Fortsetzung von Sure 8 „al-Anfal“ gewesen. Weil unter anderem die einleitende Formel „Im Namen Gottes des Allergnädigsten, des Gnadenspenders“ zu Anfang der Sure 9 fehlte, insbesondere aber auch deshalb, weil es eine offenkundige „innere Beziehung zwischen at- Tawba und al- Anfal unverkennbar war“ (siehe hierzu: Muhammad Asad, Die Botschaft des Koran, S. 332, 2009).

In der Sure „al-Anfal“ und at-Tawba geht es vornehmlich um die damalige kriegerische Auseinandersetzung zwischen den Polytheisten und den Muslimen. In Sure 8:56 wurde explizit mitgeteilt, dass die Polytheisten anhaltend ihre Friedensverträge mehrfach einseitig annullierten und sich nicht an die mit den Muslimen zuvor vereinbarte Friedensfrist hielten: „Jene, mit denen du ein Bündnis geschlossen hast, das sie immer wieder brachen und sich vor Gott nicht fürchteten“.

Nur fünf Verse weiter ermutigt der Koran die Muslime trotzdem weiterhin dazu auf, die Hoffnung auf den Frieden nicht aufzugeben und alles daran zu setzen, um diesen auch wieder sicher herzustellen. Vers 8:61: „Und wenn sie jedoch zum Frieden geneigt sind, so sei auch du ihm geneigt und vertraue auf Gott“. Ferner sind die Muslime eindringlich dazu angehalten, die bereits im Vorfeld beschlossenen Verträge aufgeschlossen und bedingungslos zu erfüllen: „Es sind diejenigen, die ihr Versprechen einhalten, wenn sie es gegeben haben“ (2:177) und weiterhin: „O ihr, die ihr glaubt, erfüllt die Verträge“ (5:1). In Vers 9:4 wurde den Muslimen eindeutig beigepflichtet, dass in kriegerischen Auseinandersetzungen die Vertragstreue zu den polytheistischen Stämmen unbedingt einzuhalten war, weil sie im Gegensatz zu den anderen angriffslustigen Polytheisten sich strikt an die vertragliche Verpflichtung hielten, und nicht insgeheim eine Partei im Konflikt gegen die Muslime unterstützten: „Davon sind diejenigen Götzendiener ausgenommen, mit denen ihr einen Vertrag eingegangen seid und die es euch an nichts haben fehlen lassen und die keine anderen gegen euch unterstützt haben. Diesen gegenüber haltet den Vertrag bis zum Ablauf der Frist ein“.

Im ältesten und bis heute erhalten gebliebenen Tafsir- Werk von Mukatil b. Sulayman (gest. 767), wird die historisch – kriegerische Auseinandersetzung ausführlich dargelegt (siehe zur Untersuchung von Mukatil besonders: Nicolai Sinai, Fortschreibung und Auslegung, Studien zur frühen Koraninterpretation, S.168-256, Wiebaden 2009). Mukatil bestätigt in seiner paraphrasierenden Kommentierung zu 9:4, dass ebendiese polytheistischen Gruppen vom Krieg ausdrücklich ausgenommen waren, die treu zu ihren Verträgen mit den Muslimen standen (Vgl. Mukatil b. Sulayman, Tafsir- i- Kabir, Bd. 2, S. 127, isaret Yayinlari Istanbul 2006). Und erst im darauffolgenden Vers 9:5 wurde während eines bereits unvermeidbaren Krieges zur Verteidigung die Legitimität zum Töten konstatiert: „Und wenn nun die heiligen Monate abgelaufen sind, dann tötet die Heiden, wo immer ihr sie findet, greift sie, umzingelt sie und lauert ihnen überall auf.” Der nächste Vers relativiert am aller deutlichsten den Vorwurf der zeitgenössischen Islamkritiker, indem eine willkürliche Lizenz zum Töten aller Polytheisten freigegeben sei: „Sollte einer der Götzendiener dich um Schutz bitten, musst du ihn beschützen, damit er Gottes Worte hört. Gewähre ihm Asyl! Das sind nämlich Menschen, die um die Offenbarung nicht wissen“ (9:6). Maulana Mohammed Ali (1874-1951) kommentierte dazu: „Dieser Vers lässt keine Zweifel daran übrig, dass dem Propheten niemals befohlen wurde, jemandem aufgrund seiner Religion zu töten! (Der Heilige Koran, S. 453, Ausgabe 2006). Nachdrücklich wird in Bezug zu den zitierten Versen weiterhin detailliert beschrieben, dass die Muslime zuerst von feindlich gesinnten Polytheisten angegriffen wurden, obwohl doch bereits vorher einvernehmlich beschlossene Friedensverträge unter den Gemeinden ausgehandelt wurden. Dieser Tatbestand geht unmissverständlich aus den drei folgenden Koranversen hervor:

• „Sie (die Polytheisten) achten keine Bindung und keine Verpflichtung gegenüber einem Gläubigen; und sie sind die Übertreter“ (9:10).

• „Wenn sie aber nach ihrem Vertrag ihre Eide brechen und euren Glauben angreifen, dann bekämpft die Anführer des Unglaubens – sie halten ja keine Eide -, so dass sie (davon) ablassen“ (9:12).

• „Wollt ihr nicht gegen Leute kämpfen, die ihre Eide gebrochen haben und die den Gesandten zu vertreiben planten – sie waren es ja, die euch zuerst angegriffen haben? (9:13).

Es können somit folgende drei Punkte festgehalten werden:

Muslimen wurde die Legitimation zum Krieg nur eingeschränkt gewährt, weil die Friedensverträge eigenmächtig vonseiten der Polytheisten aufgehoben und sie daraufhin aggressiv angegriffen wurden (9:13).

Der Koran betonte zu jener Zeit den grundlegenden Stellenwert des Asylrechts. Selbst in Kriegszeiten durften die verfeindeten Antagonisten einen bis dahin noch nicht gekannten Anspruch auf die Gewährung von Asylrecht beanspruchen. Aber das eigentlich Revolutionäre war zweifelsohne nicht nur die Gewährung des Schutzes, sondern die glasklare Anweisung des Korans, alle Asylsuchenden an die von ihnen gewünschten Orte in Sicherheit zu bringen: „Und wenn einer der Götzendiener bei dir Schutz sucht, dann gewähre ihm Schutz, bis er Gottes Worte vernehmen kann; hierauf lasse ihn den Ort seiner Sicherheit erreichen“ (9:6).

Die betreffenden Koranverse in at-Tawba sind innerhalb eines bereits ausgebrochenen Verteidigungskriegs zu verstehen. Die Koranverse behandeln nicht das Recht zum Krieg, sondern das Recht im Krieg.

Diverse Koranpassagen erhärten diese Annahme noch ausdrücklicher: „Die Erlaubnis (sich zu verteidigen) ist denen gegeben, die bekämpft werden, weil ihnen Unrecht geschah – und Gott hat wahrlich die Macht, ihnen zu helfen“ (22:39). Weiter heißt es: Und kämpft auf dem Weg Gottes gegen diejenigen, die gegen euch kämpfen, doch übertretet nicht. Wahrlich, Gott liebt nicht diejenigen, die übertreten. Und tötet sie, wo immer ihr auf sie stoßt, und vertreibt sie, von wo sie euch vertrieben haben; denn die Verführung (zum Unglauben) ist schlimmer als (das) Töten. Und kämpft nicht gegen sie bei der heiligen Moschee, bis sie dort gegen euch kämpfen. Wenn sie aber gegen euch kämpfen, dann tötet sie. Solcherart ist der Lohn der Ungläubigen. Wenn sie aber aufhören, so ist Gott allverzeihend, barmherzig. Und kämpft gegen sie, bis es keine Verwirrung (mehr) gibt und die Religion Gott gehört. Wenn sie aber aufhören, so soll es keine Gewalttätigkeit geben außer gegen diejenigen, die Unrecht tun“ (2:190-193).

In den zwei aufeinanderfolgenden Koranversen der Sure al-Mumtahina werden drei unabdingbare Grundsätze für die Erlaubnis zum Krieg verlautbart. Nach diesen Normen kann ein Krieg nur dann geführt werden, wenn:

1. die Muslime wegen ihres Glaubens bekämpft werden,

2. Wenn sie aus ihrer Heimat vertrieben werden und

3. wenn gegen die Muslime bei der Vertreibung nachweisbar geholfen wird:

Gott verbietet euch nicht, gegen jene, die euch nicht des Glaubens wegen bekämpft haben und euch nicht aus euren Häusern vertrieben haben, gütig zu sein und redlich mit ihnen zu verfahren; wahrlich, Gott liebt die Gerechten. Doch Gott verbietet euch, mit denen, die euch des Glaubens wegen bekämpft haben und euch aus euren Häusern vertrieben und (anderen) geholfen haben, euch zu vertreiben, Freundschaft zu schließen. Und wer mit ihnen Freundschaft schließt – das sind die Missetäter“ (60:8-9).

Die aufgezählten Grundsätze bilden ausnahmslos den Kern – wenn man so will – eines Dekalogs zum Kriegsrecht im Koran (siehe hierzu auch: Abdulaziz Bayindir, Kuran Isiginda Dogru Bildigimiz Yanlislar, S. 289, 3. Auflage Istanbul 2010).

Bei der Lektüre zum Koran rät deshalb der Islamwissenschaftler Prof. Peter Heine den interessierten Lesern, immer die historischen Hintergründe vor Augen zu halten, um so die Koranverse im historischen Kontext authentisch einordnen zu können: „Die Bestimmungen des Koran in Bezug auf den Glaubenskampf entstanden in einem historischen Kontext, in dem die junge islamische Gemeinde von Medina sich gegen ihre mekkanischen Gegner zur Wehr setzen musste“ (Prof. Peter Heine, Konflikt der Kulturen oder Feindbild Islam, S. 22, Freiburg, 1996).

Der Prophet Muhammad definierte grundsätzliche Prinzipien für die Muslime, deren Hochachtung zum essenziellen Bestandteil der islamischen Kriegsbestimmung wurde. Wie z. B. in einem bereits ausgebrochenen Krieg, keine:

Greise
• Kinder
• Frauen
• Unbeteiligte
• und Säuglinge getötet werden durften.

Auch wurde es strengstens untersagt, die Natur und den natürlichen Ressourcen Schaden zuzufügen. Der erste Kalif Abu Bakr (573-634) und unmittelbarer Nachfolger des Propheten Mohammed, bekräftigte in seiner Amtszeit die nicht zur Disposition stehenden Regeln zur Kriegsführung. In einer Rede an die Soldaten mahnte er sie in aller Eindringlichkeit, folgende grundlegende Normen in Kriegszeiten immer im Bewusstsein zu haben: „Männer! Zehnerlei lege ich euch ans Herz; merkt es euch gut! Betrügt nicht und veruntreut keine Beute; betreibt keinen Verrat und verstümmelt niemandem. Tötet keine kleinen Kinder, keine alten Männer und keine Frauen. Beschädigt oder verbrennt keine Schafe, Kühe oder Kamele, es sei denn, ihr benötigt sie als Nahrung“ (Muslim, Hadith-Nr: 1744, Bd. 5, S. 360, Irfan yayinlari. Siehe auch: Hartmut Fähndrich, Politik und Kriegsführung, S. 264-265, Edition Erdmann, Lenningen, 2005).

Vor diesem Hintergrund wies der Religionsphilosoph Frithjof Schuon (1907-1998) hin, aus welchen Motiven und unter welchen Umständen die kämpferischen Schilderungen in den Koran gelangt waren: „Es ist einleuchtend, dass die Bilderwelt des Korans hauptsächlich von Kämpfen angeregt ist, denn der Islam entstand in einer Atmosphäre des Kampfes“ (Frithjof Schuon, Den Islam verstehen, S. 65, 2. Auflage der Sonderausgabe München 1991). Deshalb ist es bei der Lektüre des Koran erforderlich, auf die Hintergründe der Offenbarungsanlässe Rücksicht zu nehmen, damit der ursprüngliche Sinn des Textes nicht entstellt und für ideologische Zwecke missbraucht werden kann (vgl. Ömer Özsoy, Alter Text- neuer Kontext, S. 16-28, Hrsg. Felix Körner, Freiburg, 2006). In seinem schmalen Bändchen „Feindbild Islam“ kritisiert der ehemalige Politiker und Publizist Jürgen Todenhöfer die Art und Weise, wie die Korandebatte im Westen tonangebend geführt wird. Todenhöfer stellte unlängst fest, dass die Leute zwar über den Koran reden, aber bislang kaum jemand darin ausführlich gelesen habe: „Das Hauptproblem der westlichen Korandebatte besteht darin, dass jeder über ihn redet, aber kaum einer ihn gelesen hat. Die kriegerischen Passagen des Korans beziehen sich erkennbar auf die damaligen Glaubenskriege zwischen Mekka und Medina und damit ausschließlich auf bestimmte Kampfszenen zwischen den Mekkanern und Medinesen jener Zeit“ (Jürgen Todenhöfer, Feindbild Islam, Zehn Thesen gegen den Hass, S. 36, 2011).

Um von Anfang an präventiv gegen den Missbrauch des Koran vor extremistisch – ideologischen Gesinnungen vorgehen zu können, wurden sämtliche Koranübersetzungen mit entsprechenden Kommentaren in den Fußnoten herausgegeben. Sie erläutern die konkreten historischen Gegebenheiten, um so die Leser für die historisch- geschichtliche Verflechtung des Textes eingehend zu sensibilisieren (besonders empfehlenswert sind derzeit im deutschsprachigen Raum: Muhammad Asad, Die Botschaft des Koran, Patmos, 2009; Ali Ünal, Der Koran und seine Übersetzung: mit Kommentar und Anmerkungen, Fontäne, 2009 und die weniger kommentierte Ausgabe von Murad Wilfried Hofmann, Der Koran, München, 2001). In ihrem bemerkenswerten Artikel über „Gewalt und Islam“ stellt die iranische Theologin Hamideh Mohagheghi eine unkonventionelle deutschsprachige Koranübersetzung vor, die im Jahre 2005 in persischer Sprache von Abdullah Ansar Hage in Teheran veröffentlicht wurde. So übersetzt Hage den Vers 2:192 folgendermaßen: „Und kämpft gegen sie, wo immer ihr auf sie treffen möget, und vertreibt sie aus Mekka, so wie sie euch von Mekka vertrieben haben – denn Unterdrückung ist noch schlimmer als kämpfen“. Die Stadt Mekka kommt im Wortlaut des Originals im arabischen nicht vor. Sie wird jedoch hier in der zitierten Übersetzung direkt in den Text integriert, um so präventiv eine überzeitliche Lesart jener Kriegspassagen zur „imperativen Norm“ auszuschließen. So wird dem Leser bei der Lektüre bewusst, dass der oben vorgeführte Koranvers keine gegenwärtige Aufforderung zum Kampf behandle, sondern sich ausschließlich und konkret auf die historischen Ereignisse bezog (siehe hierzu: Hamideh Mohagheghi, Moderne Zugänge zum Islam, S. 65, Paderborn, 2010).

Eine historisch– kritische Herangehensweise unter Einbezug der „Sira“ (Biografie des Propheten) lässt keinen Zweifel darüber, dass der Prophet alles Erdenkliche daran setzte, die Unversehrtheit des Menschen zu beschützen. Objektiv durchgeführte Studien kommen zur Schlussfolgerung, dass der Krieg nach den Wertvorstellungen im Koran eine katastrophale Erscheinungsform ist. Die international renommierte Religionswissenschaftlerin Prof. Karen Armstrong beschreibt dies mit den folgenden Sätzen: „Der Koran lehrt, dass Krieg derartig katastrophal ist, dass Muslime jede nur erdenkliche Möglichkeit nutzen müssen, um so schnell wie möglich wieder zu Frieden und Normalität zurückzufinden. Arabien war eine chronisch gewalttätige Gesellschaft, und die umma (Gemeinschaft der Muslime) musste sich zum Frieden durchkämpfen“ (Kleine Geschichte des Islam, Ausgabe 2001, S. 38, Berlin 2004).

Das Vorstandsmitglied des Instituts für Geographie an der Friedrich-Alexander-Universität, Prof. Horst Kopp, analysiert seit Jahrzehnten die Gewaltforschung besonders in den muslimischen Gesellschaften. Nach Kopp stellt sich die Frage nach den Gewaltauswüchsen viel komplexer als bislang angenommen wird. In populärwissenschaftlichen Publikationen sowie in den Mainstream-Medien würden die eigentlichen Ursachen von Gewalt kaum erörtert, stattdessen begnügen sie sich mit einfachen Erklärungsversuchen, indem allein die Religion oder die Kultur auf die Anklagebank gesetzt werden. Um den Nährboden des Extremismus erfolgreich und unnachgiebig zu bekämpfen, müssen primär die gesellschaftlichen Strukturen angegangen werden. Zugespitzt würden die Ursachen in der Kausalkette überwiegend aus „Armut“ und „Hoffnungslosigkeit“ bestehen: „Was sich gegenwärtig im islamischen Raum zusammengebraut zu haben scheint, könnte jederzeit anderswo entstehen. Dahinter verbirgt sich nicht Religion oder Kultur, sondern ein Gefühl der Ohnmacht. Sie ist vielerorts in der so genannten „Dritten Welt“ verbreitet und geknüpft an die täglich erlebte Erfahrung des riesigen Gefälles von Wohlstand, aber auch von Bildung, Technik und Wirtschaft zwischen dem „Norden“ und dem „Süden“. Die Armut gebiert Hunger, Obdachlosigkeit, Analphabetismus, Hoffnungslosigkeit. Und sie bedeutet Ausgrenzung – das „nicht teilnehmen können“. Das ist der Nährboden, auf dem Extremismus und Fundamentalismus gedeihen und Gewalt erwächst. Eine nachhaltige Beseitigung des Terrors setzt eine Veränderung dieses Milieus voraus“ (Zeitschrift Geschichte 9/2006, S. 51).

Erst wenn die Ursache des Terrorismus richtig verortet werden kann, nur dann kann es im Grunde auch möglich sein, diese effektiv an der entsprechenden Wurzel anzugehen. Mittlerweile kursiert in den Medien ein Spruch, in dem es sinngemäß heißt: „Nicht alle Salafisten sind potenzielle Terroristen, aber alle Terroristen hatten zweifelsfrei einen salafistischen Hintergrund“ (so z. B. der CDU-Politiker Wolfgang Bosbach). In seinem brisanten Buch „Scharia– der missverstandene Gott“ analysiert Prof. Mouhanad Khorchide, Leiter des Zentrums für Islamische Religionspädagogik an der Universität Münster, die Philosophie und Denkstruktur der Salafisten/Wahhabiten auf der Grundlage der Weltanschauung von Mohammed Abd al-Wahhab (1703-1792). Al-Wahhab gilt als geistiger Urheber dieser erzkonservativen Bewegung, dessen exklusivistische Denkschule nunmehr als fester Bestandteil des Glaubens vieler Jugendlicher in der europäischen Diaspora in Erscheinung tritt. Die Salafisten berufen sich nach ihren eigenen Angaben nur auf die ersten drei Generationen des Islam und lehnen deshalb alle etablierten Rechtsschulen strikt ab. Zu Recht bemerkt Khorchide, wie eifrig sie unter anderem ihre restriktive Ideologie durch gezielte Selektion der historischen Quellen zu legitimieren versuchen: „Sie sehen im Leben und Wirken dieser drei Generationen einen Idealtypus, dem es nachzueifern gilt. In Wirklichkeit selektieren sie (so wie der IS-Terror auch) jedoch eine bestimmte Lesart dieser Epoche, mit der sie ihre Ideologie zu legitimieren versuchen. Historische Fakten werden hingebogen, um bestimmte Positionen als islamisch zu deklarieren“ (Scharia – der missverstandene Gott, S. 156). Die Intoleranz von Abd al-Wahhab geht sogar so weit, den Muslimen den Glauben abzusprechen, wenn sie die der Meinung sind, dass Christen durch das Gebet in der Kirche dem Schöpfer näherkommen: „Wer glaubt, dass Christen durch das Gebet in der Kirche Gott näherkommen, fällt vom Islam ab“ (siehe zur Quellenangabe: Scharia – der missverstandene Gott, S. 172).

Deswegen sind im Besonderen die muslimischen Multiplikatoren dazu angehalten, die theologisch rudimentären Weltbilder der Salafisten und dem von ihnen zumindest theologisch beeinflussten IS- Terror, mit dem reichhaltigen und umfangreichen islamischen Quellenmaterial entgegenzuwirken. Nur wenn es tatsächlich gelingen kann, den Boden der salafistischen Ideologie mit authentischem Quellenmaterial aus der Frühzeit der islamischen Praxis zu disqualifizieren, nur dann kann auch in absehbarer Zeit diesem Krebsgeschwür erfolgreich entgegentreten werden.

Abschließend betonte der deutsche Innenminister Dr. Thomas de Maiziere nochmals in aller Öffentlichkeit, die im Nahen Osten eskalierende Situation habe in keiner Weise etwas mit der Zielsetzung des Koran zu tun und würde auf missbräuchlicher falscher Berufung beruhen: „Was man derzeit im Nahen Osten sieht, ist eine missbräuchliche und falsche Berufung auf den Koran. Und ich bin sehr, sehr froh darüber, wie klar sich die muslimischen Verbände in Deutschland davon distanziert haben“ (Die Zeit, S. 4, Hamburg, Oktober 2014).

Quelle: http://antikezukunft.de/2014/10/14/kann-der-is-terror-sich-tatsachlich-auf-den-islam-berufen/

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